In den Alpen

Plakat zur Uraufführung in den Münchner Kammerspielen, 2002

Abdrucke

Erstdruck:

Teilabdrucke:

 

Anlass für In den Alpen , das das Gegenstück zu Jelineks Theatertext

Das Werk

bildet und nach

Das Werk

entstand, war das Seilbahnunglück in Kaprun am 11.11.2000. 155 Menschen starben, als eine Garnitur der Standseilbahn, die von der Talstation zum Kitzsteinhorn unterwegs war, aufgrund eines defekten Heizlüfters ausbrannte.

Der Theatertext weist keine äußere Gliederung auf. Es gibt zwei Zäsuren durch neue Seitenanfänge. Als Schauplatz wird in der Regieanweisung die Talstation einer Seilbahn genannt, an deren Einrichtung aber nichts an Wintersport oder Technik erinnern soll. Es werden nur allgemeine Personenangaben gemacht, auf die der Text aufgeteilt ist: Helfer, Kind, Junge Frau, Ältere Frau, Mann, A und B („Zwei Männer in alpiner Kleidung“), deren Gespräch mit wechselseitig hingehaltenen Mikrofonen, nach dem Einspielen von Computerstimmen, auch den Schluss bildet.

Ausgehend von der

Ka­ta­stro­phe

in Kaprun, deren Opfer als

Un­to­te

im Text vorkommen, thematisiert das Stück die Frage nach der Beherrschbarkeit von

Na­tur

durch

Tech­nik

und die Vermarktung der alpinen Natur in

Ös­ter­reich

durch

Sport

und

Tou­ris­mus

sowie die Gier nach Profitmaximierung (

Ka­pi­ta­lis­mus

). Zentrale Intertexte, die im Stück verarbeitet wurden, sind

Paul Cel­ans

Prosatext Gespräch im Gebirg (1959) und

Leo Ma­dusch­kas

Junger Mensch im Gebirg (1936).

Ce­lan

wird in der Regieanweisung zum zweiten Teil des Stücks, in dem Der Mann auftritt, explizit genannt. In Zusammenhang mit diesen Intertexten geht es auch um den Ausschluss der Juden im frühen Alpinismus (

An­ti­se­mi­tis­mus

), der Text verschränkt Seilbahnunglück und Holocaust (

Ju­den­ver­nich­tung

,

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

).

Nach der Uraufführung des Stücks kam es zu Protesten von Angehörigen der Opfer und Überlebenden der Seilbahnkatastrophe. Jelinek nahm dazu in dem offenen Brief „Die Toten wenigstens in der Kunst ins Leben zurückholen“ Stellung.

 

„In den Alpen“ handelt von einem der schlimmsten (wenn nicht dem schlimmsten) Unfall der österreichischen Nachkriegszeit. In einer Gletscherbahn bricht aufgrund von Indolenz und Unfähigkeit und Gier nach Profitmaximierung im Fremdenverkehr (nachträglicher Umbau der Bahn in ein „schnittigeres“ Gefährt, dem modernen Tourismus entsprechend, aus leicht brennbarem und Gifte erzeugendem Plexiglas, Einbau eines billigen Heizlüfters, nachträgliche Isolierung mit Nadelholzbrettern etc.) ein Brand aus. Es ersticken und verbrennen innerhalb kürzester Zeit 155 Menschen, die zum Schifahren aufs Kitzsteinhorn und zu dessen „ewigem“ Gletscherfirn aufgebrochen waren. Der Text arbeitet mit Zitaten aus Originaltexten des frühen Alpinismus, einer Aufbruchsphase, in der die Alpen noch nicht als Sportgerät für die Massen, sondern als Naturereignis wahrgenommen, eigentlich mehr: vergötzt, sozusagen aristokratisiert, geadelt wurden, als wahrer Besitz weniger, als elitäres Erlebnis, das den Massen (aber auch gewissen Minderheiten) verschlossen bleiben muß. Diese Einschübe, die ich, wie Brennstäbe, in den Text-Reaktor, der da vor sich hin kocht, einführe, manifestieren einen Ausschluß: Am Ursprung der Erschließung der Alpen, die heute eben bis zum Einschluß einer riesigen Öffentlichkeit in Form einer Bergarena für Sport und Kulturindustrie reicht, wo z.B. Hannibals Überquerung der Alpen nachgestellt wird, steht zwar kein individueller Besitzanspruch, wohl aber der kollektive Ausschluß der Anwesenheit anderer. Mit Ausnahme des zahlenden Gastes und des schuftenden Saisonniers selbstverständlich.

Den einen gehört das Gebirge, die anderen sind und bleiben ausgeschlossen, vor allem sind diese anderen: die Juden. Die Geschichte des Alpinismus seit dessen Beginn ist eine Geschichte auch des Antisemitismus. Juden wurden aus allen Sektionen des Alpenvereins und der Wandervogelbewegung schon sehr früh, Anfang der zwanziger Jahre, ausgeschlossen und mußten ihre eigene Sektion („Donauland“) gründen. Die „reinen“ Berge dürfen von den ewigen „Bewohnern der Ebene“, die weder für das Reine noch für die Herausforderung des Hehren, Hohen gerüstet sind, niemals angetastet (soll heißen: beschmutzt) werden. Diesen ewigen Ausschluß habe ich durch Einschübe aus einem der wahrscheinlich berühmtesten deutschsprachigen Prosatexte der Nachkriegsliteratur, Paul Celans (danke für Abdruckerlaubnis, Suhrkamp Verlag!) „Gespräch im Gebirg“, zu fassen versucht. Da spricht einer, der nicht dazugehört und nicht dazugehören darf, der sozusagen auf einer anderen Schiene fährt, welche die der Gletscherbahn nie berühren sollte, und auf die deren Insaßen nur dort stoßen, wo sie im Tunnel ihre eigene Lebensbahn verlassen müssen.

aus: Elfriede Jelinek: Nachbemerkung. In: SB In den Alpen 2002, S. 253-259, S. 253-255.

Mehr unter Einzelne Werke