Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr

Prosa

Cover des Erstdrucks, 1985

Abdrucke

Erstdruck:

Taschenbuckausgabe:

Teilabdrucke:

Tonkassette

CD

 

Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert, die folgende Titel haben:
1. AUSSENTAG
Gedicht
2. INNEN. TAG.
Keine Geschichte zum Erzählen
3. AUSSEN. NACHT.
Herrliche Prosa! Wertvolle Preise!

Beschrieben wird der gesellschaftliche (

Ge­sell­schaft

), wirtschaftliche und physische Untergang des arbeitslosen Holzfällers (

Ar­bei­ter

) und Wilderers Erich. Vereinsamt durch die Scheidung (

Ehe

) von seiner Frau und den

Tod

seiner krebskranken Schwester bemüht er sich um neue Beziehungen mit der Dichterin Aichholz und einer Managerin. Doch er wird von ihnen als Lustobjekt (

Se­xua­li­tät

) behandelt und schließlich verlassen. Am Ende wird er vom Wachpersonal einer Jagdgesellschaft erschossen.

Den drei Abschnitten des Romans, der in den steirischen Bergen angesiedelt ist, entsprechen unterschiedliche Blickwinkel auf das Geschehen: der erste fokussiert Erichs Perspektive, der zweite die der Dichterin und der dritte die der besitzenden Kapitalisten (

Ka­pi­ta­lis­mus

), eines deutschen Millionärs und seiner Jagdgesellschaft, zu der auch die Managerin gehört. Thematisch setzt sich der Roman mit der

Aus­beu­tung

der

Na­tur

durch Profitgier,

Sport

und

Tou­ris­mus

, familiärer (

Fa­mi­lie

)

Ge­walt

und der Entfremdung des Menschen durch Geschlechterhierarchien (

Pa­tri­ar­chat

) und Arbeitsverhältnisse auseinander.

Intertextuell bezieht sich Jelinek auf die

Phi­lo­so­phie

Mar­tin Heid­eg­gers

und

Lud­wig Witt­gen­steins

. Auf

Heid­eg­ger

und seine nationalsozialistische Vergangenheit (

Na­tio­nal­so­zia­lis­mus

) bezieht sich Jelinek auch in den Theatertexten

Wol­ken.Heim (1988)

und

To­ten­au­berg (1992)

. Eine Figur Erich gibt es auch im Roman

Die Lieb­ha­be­rin­nen (1975)

.

 

 

Sie wohnt gesund in ihrem Haus und würde an der Politik nicht teilnehmen. Von diesem letzten Rettungsort schaut sie sich jeden Tag wieder einen Teil der Alpen an. Sie nimmt kleine Bissen Natur in sich auf. Sie schaut das Massiv gern an. Es ist ein offenes Willkommen Tor, in das sie sich nicht mehr hineintraut. Sie schreibt über das schroffe Felstor, die alte Dichterin und Lehrerin. Sie singt über andere, die sich an Schnüren dort hinaufziehen. Horcht, wie die Eispickel Löcher in den empfindlichen Fußboden der Berge schlagen. Sie meißeln wegen Gesundheit und Abenteuer an den Bergen herum. Die Luft dort ist frisch, sie sind gegen das Wetter fest verpackt. Diese glänzende Ankunft von denen dorten ist grandios wie Krankheit, hält aber keinen Vergleich mit dem Feinempfinden der Dichterin aus. Sie dreht an ihren zarten Knöpfen, und die Gefühle fließen. Die Dichterin stellt sich auf die Empfindung ein und beschreibt damit den Fels. Der Bergsteiger liest es verständnislos. Sie arbeiten doch beide an der Natur, die sie als ein Turngerät mißbrauchen. Sie gehen beide in die Irre. Die Natur hält still. Die alte Frau fliegt dahin im Erzählen. Sie quetscht in kurze Zeilen und kleine Gedanken was sie draußen erspäht. Sie ist immer unruhig im Schlaf und keine junge schöne Frau mehr. Nichts von ihr hat sich auch nur an einem Stein je abgedrückt, kein Handgriff. Sie läßt der Natur jede erdenkliche Hilfe angedeihen, sie schneidet ihre Obstbäume und mäht das Gras mit der Sichel, zum Dank läßt die Natur sie nur altern. Steine. Deren Fortbestand sie als Herausforderung und Thema immer vor Augen hat. Sie möchte nie sterben und bemüht sich, mit der Mörderin Natur gut zufuß zu sein und auszukommen. Wenn sie wieder einmal laut und gesund atmet in der schwachen Wärme des Morgens, wird sie jeder Krankheit noch lang aus dem Weg gehen. Nicht sie ist für die Natur, die Natur ist für sie da, wo kämen wir sonst hin. Die Berg täuschen durch extreme Haltsamkeit vor, die Zeit einmal doch betrügen zu können. Die alte Frau fragt, hält es hier noch irgendwer aus außer mir? Sie ist einmalig. Sie ist allein, der Natur Gebrechlichkeit höchsten Ausmaßes vortäuschend, damit sie nicht von dieser Macht, größer als ein Bild im Fernsehgerät, zerschlagen wird. Sie schreibt hier ihre Gedichte, die schon zu Unrecht in Anthologien und Fachzeitschriften erschienen sind, gruppenweise auftauchende Visionen von offenen Türen, die alle zu herrlich aufgeräumten bis ins letzte ausgemessenen Einbauküchen führen. Kein weißgestrichenes Geheimnis.

aus: Elfriede Jelinek: Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr. Reinbek: Rowohlt 1985, S. 93-94. (Beginn des 2. Abschnitts)

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