Raststätte oder Sie machens alle

Eine Komödie

Uraufführung am Akademietheater Wien, 1994. Foto: Burgtheater Wien / Oliver Herrmann

Personen

Isolde und Kurt (ein Ehepaar in mittleren Jahren); Claudia und Herbert (ein Ehepaar, jünger); ein Kellner; ein Bär; ein Elch; vier Swinger; zwei Männer, zwei Frauen; ein verkleideter Zug, auch Kinder; zwei japanische Philosophiestudenten (unbedingt Originale!)

Abdrucke

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Aufführungen

Würdigung

1995 wurde

Frank Cas­torfs

Inszenierung von der Zeitschrift Theater heute zur „Inszenierung des Jahres“ gewählt.

 

Raststätte oder Sie machens alle wurde von der Autorin als Satyrspiel zu ihrem Stück

To­ten­au­berg

konzipiert. Der Text ist in drei Teile gegliedert.

Schauplatz ist eine Autobahnraststätte. Der 1. Teil spielt im schmutzigen und düsteren Lokal mit einer großen „Glasscheibenfront auf den Parkplatz hinaus“, der 2. Teil im „Vorraum einer großen Autobahn-Damentoilette“ und der 3. Teil auf dem Parkplatz in der Nacht. Die beiden Hausfrauen Claudia und Isolde haben per Inserat ein Rendezvous mit zwei Männern auf der Toilette der Raststätte vereinbart. Die beiden Männer, in Elch- und Bärenkostüm (

Tie­re

) verkleidet, treffen jedoch zuvor auf Kurt und Herbert, die Gatten der Frauen, und überlassen diesen ihre Kostüme. Der Geschlechtsverkehr in der Toilette findet zwischen den jeweiligen EhepartnerInnen (

Ehe

) statt. Die Aggressionen der beiden Ehepaare richten sich gegen die „Tiere“, die von ihnen zu Tode geprügelt und verspeist werden.

Jelinek thematisiert im Stück den Sieg des

Ka­pi­ta­lis­mus

nach dem Zusammenbruch des

Kom­mu­nis­mus

. Ihre Kritik bezieht sich auf das Streben nach uneingeschränkter Konsumation von Lust und auf die Vermarktung von

Se­xua­li­tät

durch die Porno-Industrie (

Por­no­gra­fie

). In den Reden zweier japanischer Philosophiestudenten thematisiert die Autorin das Spannungsfeld von

Na­tur

und

Tech­nik

. Die beiden kriechen am Ende des Stücks aus den Tierkostümen und lesen den abschließenden Text, der sich auf philosophische Abhandlungen

Mar­tin Heid­eg­gers

(

Phi­lo­so­phie

) bezieht, von „Electronic Books“ ab.

Als eine ihrer dramatischen Folien benutzte Jelinek

Lo­ren­zo da Pon­tes

und

Wolf­gang Ama­de­us Mo­zarts

Oper Così fan tutte o sia La Scuola degli amanti (1790), auch zu

Wil­liam Shake­speares

Ein Sommernachtstraum gibt es Bezüge.

Die Uraufführung am Wiener Akademietheater (1994) in der Inszenierung von

Claus Pey­mann

wurde bereits im Vorfeld von der österreichischen Öffentlichkeit (

Ös­ter­reich

,

Me­di­en

) skandalisiert, der Theatertext als „Pornoschwank“ angekündigt, Jelinek als „Sexorzistin“ bezeichnet und persönlich diffamiert. Auf großes Medieninteresse stieß auch die Inszenierung von

Frank Cas­torf

1995 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, in der die Autorin als Sexpuppe auf die Bühne gebracht wurde, Jelinek bezog sich darauf in ihrem Essay

Die Pup­pe

(2000).

 

 

Sigrid Löffler:In Ihren bisher sieben Theaterstücken hatte das Publikum nichts zu lachen. Mit „Raststätte“, Ihrem achten Stück, versprechen Sie uns plötzlich eine Komödie. Ist da nicht allerhöchster Argwohn angebracht?

Elfriede Jelinek: „Raststätte“ ist meine erste richtige Komödie. Es ist eine Burleske. Ich habe sie als Satyrspiel zu dem Heidegger/Arendt-Stück „Totenauberg“ geschrieben. [...]

Der Machart nach ist „Raststätte“ eine Partnertausch-Komödie.

Ja, sie funktioniert nach dem Modell von „Così fan tutte“.

Der Untertitel des Stücks – „Sie machen’s alle“ [sic] – ist ja nicht nur ein Kratzfuß in Richtung Lorenzo da Ponte, des Librettisten der Mozart-Oper „Così fan tutte“. Sie zeigen, daß der sexuelle Lustbetrieb nicht bloß Männersache ist, sondern auch Frauensache sein kann.

Nach meinem Roman „Lust“ hat man mir vorgeworfen, daß darin das weibliche Begehren nicht dargestellt wird. Im Gegensatz zu „Lust“, wo die Frau nur Opfer war, werden hier Frauen bei der aktiven Lust-Suche gezeigt – und das wird natürlich noch schrecklicher, noch entsetzlicher. [...]

In „Raststätte“ drehen die Frauen den Spieß um – scheinbar.

Erst düpieren die Männer die Frauen, dann düpieren die Frauen die Männer. Die Fäden zieht wie bei Da Ponte, ein Spielmacher, diesfalls ein Kellner.

Obwohl es hier die Frauen sind, die selber sexuelle Abenteuer suchen, zeigen Sie die Sexualität doch wieder als ein Bemächtigungs- und Entmachtungsspiel. Keine Rede von den Freuden befreiter Sexualität. Gibt es denn kein unschuldiges Kopulieren?

Partnertausch ist keine sexuelle Befreiung, sondern nur eine Ritualisierung und Kanalisierung von Sexualität. Die erste Natur ist ja für immer verloren, kaputt. Und die zweite Natur ist monströs. In dem Stück geht es um den ultimativen Schrecken – den Schrecken der Freiheit. Alle nehmen sich, was sie können. Es gibt keine Konflikte. Es gibt nichts mehr, woran man sich halten kann. Ich zeige den Sieg derer, die nur ficken wollen. Ich zeige das schwarze Loch der Freiheit. Ich bin ja eine unheilbare Moralistin.

aus: Sigrid Löffler: Mordslust auf Männer. In: Die Woche, 4.11.1994.

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