Julia Kospach: Ihre Sprache zeichnet einmal mehr ein erschreckendes und deprimierendes
Bild vom Verhältnis der Geschlechter zueinander: Nichts als Brutalität und Gewalt mit
Sex als dem Instrument der Machtausübung von Männern über Frauen. Sind Frauen um
keinen Schritt weitergekommen?
Elfriede Jelinek: Nein, ich sehe das nicht so, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern
wesensmäßig nichts als Brutalität und Gewalt ist. Es ist viel banaler,
nämlich, dass das scheinbar Natürlichste (Sex, Liebe, Ehrgeiz etc.) das in Wahrheit
gesellschaftlich Bedingteste ist. So wie die zweite Natur die erste längst überlagert
hat. [...] Es geht also nicht um Brutalität, sondern um die Ausübung von Herrschaft,
auch im Privatesten. Ein Körper eignet sich einen anderen an, und es ist ja der Mann,
der sich die Frau aneignet, wie er sich ihre Arbeit im Haushalt und überhaupt all
die unbezahlten Arbeiten, die sie leistet und die in keinem Bruttoinlandsprodukt
aufscheinen, aneignet. [...]
Warum trägt „Gier“ den Untertitel „Ein Unterhaltungsroman“?
Na ja, was soll ich bei einem „Unterhaltungsroman“ groß erklären. Wenn man Unterhaltung
erklären soll, ist sie ja keine mehr. Vielleicht ist es eine Art Denksportaufgabe
herauszufinden, wieso ich diesen Roman überhaupt „Unterhaltungsroman“
nenne. Ich werde das dem Leser aber nicht abnehmen, er soll selbst entscheiden, ob
er den Untertitel ironisch nehmen will oder nicht. [...]
Ist der Provinzgendarm und Mörder Kurt Janisch, ihre Hauptfigur, der prototypische
österreichische Ungustl und Biedermann: provinziell, brutal, frauen- und fremdenfeindlich,
selbstgerecht? Oder ist er ein ganz individuelles Monster?
Natürlich tragen meine Figuren immer beides in sich, ihre ganz persönliche Individualität
und ihre gesellschaftliche Bedingtheit, also das Allgemeine. Vielleicht ist es
überhaupt so, dass, je mehr das Individuum als solches Anerkennung sucht, desto
mehr offenbart es dabei seine gesellschaftliche Bedingtheit, und der Schriftsteller tut
nichts Anderes, als seine Figuren auf diesem Weg bis zum bittren Ende zu begleiten.
Ich wollte halt nach den „Kindern der Toten“, die ja in den Figuren wie im Thema
eher überlebensgroß angelegt waren (natürlich, es waren ja meist Gespenster), diesmal,
im Unterhaltungsroman, kleinere Figuren, alltägliche, eben Dorfgendarmen
oder die aus der Stadt zugezogene Frau beschreiben. Ich wollte vielleicht das Grauen
hinter diesen scheinbar ganz alltäglichen Existenzen zeigen. Wie heißt es doch
immer so schön, wenn wieder einmal einer seine Familie mit der Pumpgun ausgerottet
hat? Er war immer so ein unauffälliger, ruhiger Mensch.
aus: Julia Kospach: Manchen fehlt ein Enzym. In: Berliner Zeitung, 11.9.2000.
Über den Roman und seine Figuren, Machtausübung zwischen Männern (
Mann
) und Frauen (
Frau
) und die politische (
Politik
) Aktualität des Romans in
Österreich
. Die Figuren in
Gier
tragen „immer beides in sich, ihre ganz persönliche Individualität und das Allgemeine“. Mit ihrem Roman wollte sie „das Grauen hinter diesen scheinbar ganz alltäglichen Existenzen zeigen“.