Die Literaturgeschichte ist voll von skurrilen oder tragischen Schicksalen. Doch die Geschichte Robert Walsers ist unter den tragischsten.
Ihm ist die letzten dreißig Jahre seines Lebens eine Irrenanstalt als Wohnsitz zugewiesen worden, und fast diese ganze Zeit hat er nicht
mehr geschrieben. Kein Aufenthalt ohne Bewegung, und Bewegung, Spaziergänge mit Carl Seelig,
auch allein, sind gestattet gewesen. Doch er hat sie oft widerwillig angetreten, hat den eigenen Schlüssel verweigert; er mußte, wollte ja
doch arbeiten in der Anstalt, Erbsen sortieren, Stanniolpapier falten, Tüten kleben. Nur keine Sonderregelung für den ehemaligen Dichter!
Angst sogar vor dem Zimmer für sich allein, lieber mit anderen zusammenwohnen! Am besten gleich zu zehnt. Der Schriftsteller soll endlich
zur Sache kommen und sich ausdrücken!
Doch wenn der Weg nach außen versperrt ist, will man auch in sich nicht mehr bleiben, weil man es muß. Das schöne reiche Innenleben des Dichters,
und er gibt es uns nicht! Behält sein Licht unter dem Scheffel, dabei gehört es ihm gar nicht, es gehört uns allen! Dieser Robert Walser ist einer
von denen, die, wenn sie „ich“ gesagt haben, nicht sich gemeint haben. Er sagt zwar ununterbrochen ich, aber er ist es nicht. Wie die Musik des
späteren Schubert, Schumann: verdämmern, ohne sich zu meinen. Walser sieht, was jeder sieht. Und er zeigt sein Werkzeug, es aufzunehmen. Er macht
etwas so und so, aber, wie Jürg Laederach von ihm sagt: er gleicht dem Käufer, der die Preisliste
studiert, nicht weil er wissen will, was die Dinge kosten, sondern weil er weiß, daß er ertragen muß, nicht einkaufen zu dürfen. Es werden keine
Rechnungen gestellt, und unter dem Strich kommt nichts heraus.
Da liegt der Dichter tot im Schnee, und der Hut ist ihm vom Kopf gefallen und liegt neben ihm, aber noch auf dem Foto drauf. Der Titel des Stückes
ist aus den Silben seines Namens zusammengesetzt, doch das ergibt kein Ganzes und keinen Sinn: Rob-er-t nicht als Wals-er, er nicht als er. Keiner.
Alles. Von ihm, auch das meiste an diesem Text.
Elfriede Jelinek: o. T.
In: Jelinek, Elfriede: er nicht als er (zu, mit Robert Walser). Ein Stück. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 39-40. (Nachwort)
er nicht als er wurde anlässlich des Jelinek-Schwerpunkts bei den
Salzburger Festspielen
1998 (
Dichterin zu Gast ’98. Elfriede Jelinek
) uraufgeführt.
Ivan Nagel
, der Schauspielchef der Festspiele, hatte Jelinek vorgeschlagen, etwas über bzw. zu und mit DichterInnen, denen sie sich geistig verwandt fühlte, zu machen. Der Schweizer Dichter
Robert Walser
(1878-1956), der 1933 in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau eingeliefert wurde und dort starb, rückte dabei in den Mittelpunkt.
Der Titel des Stücks ergab sich laut Jelinek aus einer Reduktion von „Rob-er-t nicht als Wals-er“. Der Text ist ohne vorgegebene Aufteilung auf SprecherInnen. Er wird durch Leerzeilen in zwölf Abschnitte gegliedert. In der Regiebemerkung zu Beginn wird vorgeschlagen, dass die Sprechenden in Badewannen liegen könnten, „wie sie früher in den Irrenhäusern Verwendung fanden“.
Anhand von
Robert Walser
reflektiert der Text die Rolle des Künstlers (
Künstler
) als gesellschaftlicher
Außenseiter
. Im Text wird in der 2. Person Plural ein nicht näher benanntes Sie angesprochen. Thematisiert wird u.a. – unter Bezugnahme auf
Walsers
Leben in der Pflegeanstalt Herisau – der
Wahnsinn
und das Verstummen eines Dichters. Ein wichtiger Intertext ist
Walsers
Prosaarbeit Der Spaziergang (1917). Auch auf die
Philosophie
Martin Heideggers
wird mehrfach Bezug genommen. Im Nachwort vergleicht Jelinek
Walsers
literarisches Werk mit der
Musik
Franz Schuberts
und
Robert Schumanns
. Ein zentrales Bild, auf das verwiesen wird, ist das Foto des tot im Schnee liegenden Dichters, der bei einem Spaziergang an einem Herzschlag verstarb.