(Ist das jetzt ein Monolog oder was? Keine Ahnung!)
Ich möchte jetzt bitte sofort ein Verbrechen aufarbeiten, irgendeins, es kann ruhig
auch ein nationalsozialistisches sein, aber nein, das sind so viele, da kann ich mich
nicht entscheiden, welches ich nehme! Die Verbrechen sollen ohnehin ruhig bleiben,
zumindest während sie begangen werden, sie sind ja keine Autobahnbrücken, über die
endlos Verkehr, egal wie schwer, egal was es uns kostet, rollen könnte, sie sind zart
und anfällig, und dasselbe wird auch vom Fleisch berichtet, das sich ergibt oder auch
nicht, so wie sich einer der Trunksucht ergibt. Deshalb sucht das Verbrechen so gern
das Fleisch, die beiden gehören irgendwie zusammen. Nachher: Lärm möglich, ja erwünscht!
Obwohl das Individuum wenig zählt, nicht einmal bis drei, hängen die Menschen immer
einer Ordnung an, die ihnen aber jederzeit zum Verhängnis werden kann, viel mehr als
ich es je könnte. Jedes Opfer ist nicht nur Opfer, es arbeitet mit dem mit, der es zum
Opfer macht. Auf welche Weise wird ein Individuum zu einem solchen, nein, nicht zu
einem Opfer, zu einem Individuum, das genügt schon, wie kann es aus dem Steinbruch des
Kollektivs herausgemeißelt und gleichzeitig geborgen werden, sich trügerisch geborgen
zumindest fühlen? Und wie entsteht das Kollektiv überhaupt, in einer Zusammenhäufung
von Menschen, die nicht willkürlich ist, sondern unter eine einigende Idee gestellt?
Es bedarf nur einiger kleiner Eingriffe, es bedarf keines Messers, nicht einmal eines
12 cm kleinen, um etwas wahr sein zu lassen wie sein eigenes Gegenteil auch.
Die Gesellschaft verkehrt alles ins Gegenteil, durch einen winzigen Schnitt, denn sie
hält ja auch alles zusammen, so wie die Anhänger einer kollektiven Ordnung, egal
welcher, die Ordnung selbst am Leben erhalten. Sie werden zur Ordnung, sie sind die
Ordnung, und sie sagen, was in Ordnung ist und was nicht. Jetzt brauchen wir nur noch
Zeit, um das alles auszuführen, was ich Ihnen sage. Bei manchen von Ihnen wird die Zeit
überhaupt nichts bewirken, sie werden einfach nur träge herumlungern und warten, wer
weiß auf was. Sie wissen es ja selbst nicht. Andre wieder haben nicht die Kraft, sich
die Zeit zu vertreiben und werden von ihr vertrieben, ins Nichts, und ihr Leben führt
zu nichts und nirgendwohin.
aus: Elfriede Jelinek: Moosbrugger will nichts von sich wissen. In: Agathos, Katarina / Kapfer, Herbert (Hg.): Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. München: belleville Verlag Michael Farin 2004, S. 424-434, S. 424-425.
Jelinek verfasste
Moosbrugger will nichts von sich wissen
für Der Mann ohne Eigenschaften. Remix , einem literarischen Projekt des Bayerischen Rundfunks zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften . Der Teil mit Jelineks Text war der 16. der 20-teiligen Gesamtproduktion, die zwischen 27.12.2004 und 5.1.2005 im Bayerischen Rundfunk gesendet wurde.
Der Erstsendung des 20-stündigen Hörspiels, in dessen Rahmen die Produktion von Jelineks Text zu hören war, gingen mehrere Begleitsendungen voraus. Teil dieser Begleitsendungen war eine Produktion von Jelineks
Moosbrugger will nichts von sich wissen
als Hörspielmonolog. Gleichzeitig mit der Erstsendung des Gesamtprojekts erschien der Remix als kombinierte Buch- und Höredition.
Jelinek greift in ihrem Text die Figur des Frauenmörders Moosbrugger aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften auf. Der Text berichtet vom gewaltsamen
Tod
seines letzten Opfers (
Gewalt
) und reflektiert die sexuelle Dimension (
Sexualität
) seines Verbrechens, das Selbst- und das Frauenbild des Mörders (
Frau
,
Mann
) und geht der Frage nach, ob Moosbrugger bei der Tat zurechnungsfähig war.