Man soll erst mal im Sport etwas leisten, bevor man den Mund aufmacht, ja, daran glaube ich, das ist mein Credo.
Leistung und Sport bilden ja eine Einheit, und die Leistung ist auch immer einmalig, und hat man das gelernt, darf man
es überall sonst auch, keine Ahnung, was, Blut mit Sauerstoff in den Adern transportieren vielleicht, ohne daß man den
Sauerstoff extra dazutun muß. Da war einmal irgendein Vorgang, und so wie jetzt habe ich mich danach plötzlich ganz
hinten wiedergefunden, genauso, wie Sie mich jetzt betrachten, also jedenfalls teilweise. Ein Vorgang, der an das
Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie gemahnt. Die Neugierde des Knaben beginnt von unten her zu wachsen,
aber auch die Neugierde am Knaben selbst, so beginnt sie, es beginnt immer von unten, von den Beinen her, von dort späht
er nach dem weiblichen Genital, wie ich damals nach dem männlichen, und wird dabei selber vom Hirndoktor ausgespäht und
merkt es nicht. Der Neugierige wird selbst zum Fetisch, so sieht es für mich aus. Danach wird der Genußbrauch mißbraucht,
nein, der Mißbrauch genossen, er wird enthüllt, weil immer alles enthüllt werden muß. Alle wollen sie die Bretter woanders
hin haben, nicht vor dem Kopf, an den Füßen sollen sie sein, dort werden sie befestigt, die Latten, die die Welt bedeuten,
mit der es auch bergab geht.
aus: Elfriede Jelinek: SCHNEE WEISS (Die Erfindung der alten Leier) . In: Theater heute 12/2018 (Beilage), S. 16.
Anlass für Jelineks SCHNEE WEISS waren die von der ehemaligen Skirennläuferin
Nicola Werdenigg
2017 im Zuge der #MeToo-Debatte öffentlich gemachten sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im österreichischen Skisportbetrieb (
Österreich
) durch Trainer, Betreuer, Kollegen und Serviceleute.
Der Text besteht aus drei Teilen (1., 2., 3. Epilieren im Himmel). Während der erste Teil nur durch Absätze und Leerzeilen gegliedert ist und keine SprecherInnen nennt, weisen der 2. und der 3. Teil eine Aufteilung auf SprecherInnen aus (2.: Ein Engel, Jesus, Die Frau, Der Kopf, Gottvater, Wer dies hier sagt, wer auch immer; 3.: Der Engel, Der Bote, Affe 1, Affe 2 (
Tiere
)).
Ausgehend von den Missbrauchsfällen setzt sich der Theatertext mit sexualisierter
Gewalt
und Machtmissbrauch und den ihnen zugrundeliegenden Strukturen im
Sport
auseinander. Skiverband und Skisport werden als patriarchales System (
Patriarchat
,
Mann
,
Frau
) gezeigt, in dem quasi-religiöse Hierarchien herrschen.
Der Text reflektiert Opfer- und Täterschaft sowie damit in Zusammenhang stehende gesellschaftliche Be- und Verurteilungsmechanismen. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Debatte um die Missbrauchsfälle fragt der Text nach Schuld und Verantwortung und kritisiert mit Bezügen auf
Oskar Panizzas
Drama Das Liebenskonzil die Selbstgerechtigkeit christlich konnotierter Moralvorstellungen.
Weiters gibt es Bezüge zu
Sigmund Freuds
Untersuchungen zum Fetisch und
Marie Bonapartes
Über die Symbolik der Kopftrophäen (
Psychoanalyse
), die sich vor allem in den Passagen des sprechenden Kopfs finden, der auf die im Weltmuseum Wien ausgestellte Kopftrophäe der Munduruku anspielt, deren unkritische Präsentation 2017 für Aufsehen sorgte.
Am Ende des Textes finden sich Bezüge zum Auftragsmord an
Kim Jong nam
, dem ältesten Sohn von
Kim Jong-il
, am Flughafen Kuala Lumpur, die die Frage nach Täter- und Opferschaft in den Rahmen patriarchaler Machtstrukturen stellen.
Sophokles
: Die Satyrn als Spürhunde
Euripides
: Die Mänaden
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I Zur Genealogie der Moral