Winterreise

Ein Theaterstück

Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, 2011. Foto: Münchner Kammerspiele / Julian Röder

Abdrucke

Erstdruck (= Buchausgabe):

Teilabdruck:

  • Je­li­nek, El­frie­de

    :

    Wo die reichen Bräute tanzen.

    Teilabdruck

    In: Die Presse (Spectrum),

    15.1.2011

    .

  • Winterreise.

    Je­li­nek, El­frie­de

    :

    Teilabdruck

    In: Kunstbuch, als Einzelexemplar für das Projekt Moe Nai Ko To Ba (Wörter brennen nicht) herausgegeben. Im Rahmen der Yokohama Triennale 2014, die von konzipiert wurde

    .

Aufführungen

Preise

Jelinek erhielt für Winterreise in der Inszenierung von

Jo­han Si­mons

2011 den

Mül­hei­mer Dra­ma­ti­ker­preis

.

Würdigung

2011 wurde Jelinek für Winterreise von der Zeitschrift

Thea­ter heu­te

zur „Dramatikerin des Jahres“ gewählt.

2013 wurde Winterreise im Rahmen des Festivals XIX Międzynarodowy Festiwal Sztuk Przyjemnych i Nieprzyjemnych (= 19. Internationales Festival der Angenehmen und Unangenehmen Stücke) zum besten Stück des Festivals gewählt.

2013 wurde Winterreise im Rahmen des Festivals XII Festiwal Prapremier Bydgoszcz 2013 zum besten Stück des Festivals gewählt.

 

Jelinek verfasste den Theatertext auf Anregung der

Münch­ner Kam­mer­spie­le

, eine Paraphrase auf

Franz Schu­berts

Liederzyklus Winterreise (Text:

Wil­helm Mül­ler

) zu schreiben. Im Stück werden die Lieder des Zyklus intertextuell verarbeitet.

Der Text ist in acht Abschnitte untergliedert, enthält keine Regieanweisungen oder Angaben zu Schauplätzen und ist nicht auf SprecherInnen aufgeteilt. Es finden sich Anspielungen auf politische Ereignisse (

Po­li­tik

), wie z.B. die Affäre um die Hypo Alpe Adria Bank und deren Verkauf an die BayernLB (

Wirt­schafts­kri­se

,

Ka­pi­ta­lis­mus

), den Fall

Na­ta­scha Kam­pusch

und dessen Resonanz in den

Me­di­en

sowie Reflexionen über Fremdheit, Scheitern, virtuelle Beziehungen im

In­ter­net

und das Nichtgehört-Werden als Autorin. In allen acht Abschnitten finden sich Bezüge zu

Schu­berts

Liederzyklus (

Mu­sik

). Ein weiterer Intertext, der im Stück verarbeitet wird, ist

Mar­tin Heid­eg­gers

Sein und Zeit . Am längsten ist der Abschnitt Sieben , in dem eine Vaterfigur (

Va­ter

) in der Ich-Perspektive über die Beziehung zu seiner

Frau

und seiner Tochter (

Fa­mi­lie

) sowie über seine Einweisung in eine psychiatrische Klinik (

Krank­heit

,

Wahn­sinn

) spricht. Jelinek hat die (biographisch geprägte) Thematik des Vaters als gesellschaftlicher

Au­ßen­sei­ter

zuvor bereits in ihrem Kurzprosatext

Er­schwe­ren­de Um­stän­de oder kind­li­cher Be­richt über ei­nen Ver­wand­ten

und in ihrem Theatertext

Der Wan­de­rer

verarbeitet.

Über ihre Quellen hat Jelinek dem Text Folgendes nachgestellt:

Wil­helm Mül­ler

/

Franz Schu­bert

: Die Winterreise

Mar­tin Heid­eg­ger

: der Ärmste!, arm wie immer alles übrige, was bleibt mir übrig?

Was bleibt dem Reisen? Nur Sein und Zeit. Und das ist auch schon viel!

Na­ta­scha Kam­pusch

in: 3096 Tage Gefangenschaft, ARD-Dokumentation von

Pe­ter Rei­chard

und

Ali­na Teo­do­res­cu

Für das von

Ya­su­ma­sa Mo­ri­mu­ra

konzipierte Projekt Moe Nai Ko To Ba ( Wörter brennen nicht ) im Rahmen der Yokohama Triennale 2014 (1.8.-3.11.2014) im

Mu­se­um of Art Yo­ko­ha­ma

wurde ein Kapitel aus Winterreise in ein eigens dafür konzipiertes Kunstbuch mit Texten bekannter AutorInnen aufgenommen, die während der Triennale in Form von täglich stattfindenden Lesungen präsentiert wurden.

 

Irgendwas kommt in meinen Stücken immer beredt zum Ausdruck, aber wer beredet da was und wie? In meiner Winterreise wird vor dieser Sprechenden hier die Landschaft vorbeigezogen. Eine spricht im Stillstand. [...] Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt, kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine. Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man angekommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen? Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt. Die Winterreise, die ich früher oft begleitet habe – ich glaube, kein Werk der Kunst hat mir je mehr bedeutet – aber was sage ich da?, ich hätte eine Reise begleitet, die schon aus Prinzip immer unbegleitet sein muß?, ich habe sie natürlich bloß auf dem Klavier begleitet, die „Winterreise“ Wilhelm Müller/Franz Schubert also ist ja ein Werk der Heimatlosigkeit, aus der man nicht aufbricht und in die man nicht zurückkehrt. Der Text eines Deserteurs (der Müller war), den die „Krähen“, diese wunderlichen Tiere, die Spitzel, die den ausspionieren, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt hat, verfolgen, der Text eines Dichters, Wilhelm Müller, der aber wiederum der Träger für die Musik ist, das Gerüst, etwas, das die Musik hält und von der Musik gehalten wird, die ja ein Fortschreiten in der Zeit ist, auch so ein Fortschreiten im Stehenbleiben, der Sänger steht, der Begleiter sitzt, sie rühren sich nicht vom Fleck, das Klavier ist schwer, wenn man es bewegen will, während die Musik es ist, welche die Menschen bewegt, das ist einfacher, die innere Bewegung ist einfacher als die äußere, das muß ich mir zumindest einreden, da es ein Außen für mich ja nur selten gibt, ja, also, was wollte ich gleich noch sagen?, ich hätte es auch gleich sagen können: Dieser Text eines Deserteurs also, der zu seinem Liebchen will, denkt seine eigene Heimatlosigkeit vor sich hin. Er geht, um von der Truppe, zu der er gehört, wegzukommen. Er geht nicht, um irgendwohin zu kommen, er geht, um fortzukommen. Und er ist dabei in sich selbst vergessen. [...] Solche welt- und menschheitsgeschichtliche Heimatlosigkeit versuche ich erst gar nicht zu fassen. Ich beschreibe die Reise im Stillstand. Aber es ist alles Stillstand, auch wenn sich die Menschen scheinbar bewegen. Hinter ihnen ragt das Dunkle auf, wie eine Bühnenkulisse, der sie nicht entkommen können.

aus: Elfriede Jelinek: Fremd bin ich. In: Theater heute 8/2011, S. 60-61.

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