Peter Schneeberger:„Babel“ handelt von Religion, Pornographie, dem Irakkrieg und den
Medien: Wie hängt der Irakkrieg mit der Berichterstattung über ihn zusammen?
Elfriede Jelinek: Dieser Krieg ist so oft durch die Faschiermaschine der Medien
gedreht worden (embedded journalists) Authentizität vortäuschend (dieser Krieg ist
sogar ganz besonders authentisch, wir sind dabei, hautnah!), dass ein Abstraktionsvorgang
durch vielfältige Assoziationen, von der Antike bis zu anderen Mythen,
von der Psychoanalyse bis zu Aischylos, von politischer Analyse bis zur Philosophie
Nietzsches, vielleicht die Wahrheit eher herausbringt als dieses sogenannte
„in Echtzeit dabei sein“, denn natürlich wird auch den „embedded journalists“ nur
gezielt gezeigt, was sie sehen dürfen. Die Aufgabe des Autors ist das Entmythologisieren,
die Wahrheit hinter diesen Lügen, die sich für die Wahrheit ausgeben, bloß,
weil sie das erste Wort gehabt haben. Und wenn der Autor, die Autorin das mit den
neuen Mythen tut (wie ich im Peter-Monolog mit Marsyas zum Beispiel), dann soll
das vielleicht im besten Fall Aufklärung von einer ganz andren Seite aus bringen.
Dieser Krieg IST ja die Berichterstattung über ihn. Etwas anderes wissen wir nicht
über ihn. [...]
Zentrales Thema ihres „Babel“-Textes sind die Folter-Fotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis.
Wie schätzen sie die Ästhetik dieser Fotos ein?
Es ist Porno-Ästhetik, und deshalb habe ich auch Otto Gross und die Psychoanalyse
als Analytiker dazugebeten. Ich weiß bis heute nicht, was in dem Einsiedeglas ist,
das Lynndie England auf einem Tuch auf ihrem Schoß hält, während sie mit dem
wahrscheinlich sadistischen Folterer Charles Graner, ihrem Liebhaber, vor der
Kamera posiert. Aber das ist die Ästhetik von Pornos, und die wollen die Beteiligten
natürlich nachstellen. Körper sind dazu da, verbraucht zu werden, aber wenn
möglich, sollte man sie doch in den vielfältigsten Posen und Stellungen zeigen, damit
alle was davon haben, bevor sie weggeschmissen werden, die Körper. Es geht um
Pornographie und Krieg, also um das Fleisch als solches, wie schon bei Rubens,
zum Beispiel beim „Engelssturz“, der für mich reine Pornographie ist, auch durch
die Inszenierung der nackten Körper. Bei Brecht steht das Fleisch auf in den
Vorstädten, um verbraucht zu werden. Im Krieg wird es mit teuren Transportmitteln
eigens hingekarrt, um zu vernichten und vernichtet zu werden. Da der Krieg so
teuer ist, muss er eben ausgeschlachtet werden. […]
Wie aufmerksam haben sie den Irak-Krieg verfolgt?
Sehr aufmerksam: als eine Art Karikatur eines embedded writers, mit einem Block
und einem Stift. So habe ich „Bambiland“, den ersten Teil des Ganzen, geschrieben,
ich habe mitgeschrieben mit der Berichterstattung über den Krieg und dann
Aischylos als Schrittmacher engagiert. „Babel“, die folgenden drei langen Monologe,
sind die Durchführung dieses Themas, wenn wir bei musikalischer terminologie
bleiben wollen: Durchführung mit Variationen.
aus: Peter Schneeberger: „Bis ich am Boden aufschlage“. In: profil, 7.3.2005.
Babel besteht aus drei Teilen und ist eine Erweiterung von Irm sagt: und Margit sagt: .
Jelinek ergänzte diese beiden Texte, die sie auch überarbeitete und erweiterte, um
Peter sagt: , eine Hommage an den Schauspieler Peter Kern
keinem der drei Texte werden Angaben zu Schauplätzen gemacht. Dem Text Margit sagt: wurde in Klammern
folgende Danksagung nachgestellt:
„(Tausend Dank, lieber HerrDr. Otto Gross , ich wollte immer ein Mann sein und homosexuell,
damit ist aber nicht das Minderwertigkeitsgefühl, eine Frau zu sein, in mich eingedrungen, wie ich immer geglaubt habe, sondern, ach,
ich weiß nicht recht, ist es wirklich der Wunsch, von der mit infantilem Material belasteten Heterosexualität und deren Destruktionssymbolik freizukommen?
Könnte gut sein. Ich werde nie an mir festhalten, da such ich mir schon was Festeres aus!)“
Babel ist das zweite Stück Jelineks nach Bambiland , das sich mit dem
Irakkrieg
und seinen Folgen auseinandersetzt. Der Text thematisiert die mediale Repräsentation (
Medien
) von
Krieg
und
Gewalt
sowie die unreflektierte Konsumation der via
Internet
und TV vermittelten Bilder. Reale Bezüge hat Babel im Folterskandal im Gefängnis Abu Ghraib sowie in den von den US-Soldaten gemachten Fotos der Gewalttaten, den Ereignissen in der irakischen Stadt Falludscha, in der die Bewohner die Leichen amerikanischer Soldaten schändeten, der vor laufender Kamera vorgenommenen Enthauptung des US-amerikanischen GeschäftsmannsNicholas Berg und in den Anschlägen vom 11. September 2001 (
Elfter September
,
Terrorismus
,
USA
). Jelinek verarbeitet u.a. auch den Mythos um den Wettkampf zwischen Apoll und Marsyas (
Antike
), in dem Apoll als Sieger hervorgeht und den Unterlegenen an einem Baum aufhängen und bei lebendigem Leib häuten lässt.
Weiters gibt es intertextuelle Bezüge zum Testament des 9/11-PilotenMohammed Atta , wobei das Motiv des „Märtyrers“ sowohl in Hinblick
auf das Christentum als auch den
Islam
thematisiert und mit dem Motiv des
Kannibalismus
verschränkt wird. Weiters verarbeitet Jelinek psychoanalytische Diskurse – etwa vonSigmund Freud und Otto Gross (
Psychoanalyse
) – sowie die Sequenz ausLuis Buñuels Film Ein andalusischer Hund (1929), die in Großaufnahme einen mit einem Rasiermesser zugefügten
Schnitt durchs Auge zeigt.